Pflatsch, pflatsch, pflatsch – gleichmässig teilt das Paddel das spiegelglatte Nass. Mit kräftigen Bewegungen treibt Sarah das Stand Up Paddel-Board über den regungslosen Silvaplanersee. Sonst herrscht Stille. Nichts als Stille. Kein Wind, keine Wellen. Nur ein paar Nebelschwaden ziehen über das kalte Wasser. «Ich geniesse die Ruhe am frühen Morgen auf dem See», schwärmt Sarah Missiaen, Inhaberin des Windsurfing Silvaplana.
Die kühle Bergluft weckt den verschlafenen Geist und mit der aufgehenden Sonne spiegeln sich die schneebedeckten Bergspitzen des Piz Corvatsch im türkisblauen See. Fast kitschig. Und diese Windstille – eigentlich nicht ideal für die Inhaberin eines Surfcenters? «Der Malojawind schläft noch. Das ist nicht ideal zum Surfen, dafür umso besser zum Stand Up Paddeln», antwortet die junge Geschäftsführerin. Strahlende Augen, ein breites Lachen und langes, von der Sonne gebleichtes Haar zeugen vom erfrischenden Leben am Silvaplanersee. Was für andere Freizeit ist, bedeutet für Sarah Alltag. Arbeit und Freiheit in einem. Ein Leben im Paradies, im Hawaii der Alpen. Doch wie kommt man dazu, ein Surfcenter zu führen?
Verschlafene Gestalten in Badelatschen schlürfen an der Sonne den ersten Kaffee. «Die kommen vom angrenzenden Camping», erklärt Sarah. Aus der Küche des Surfrestaurants Pappaloù rasselt es verheissungsvoll. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee steigt uns in die Nase, als wir uns – mit vom Paddeln müden Oberarmen – unter einen Sonnenschirm auf der Terrasse setzen. Im Pappaloù beweist Sarahs Bruder Steven Erfindergeist mit Grilladen nach argentinischer Tradition – den Grill habe er sich speziell dafür anfertigen lassen – und Mamma Loùs Käsekuchen nach polnischem Familienrezept.
«In den 80er Jahren surfte jeder. Windsurfen erlebte einen Hype. Wer cool war, fuhr mit einem aufs Autodach gepackten Surfbrett durch die Gegend», schwelgt Sarah in den Erzählungen ihres Vaters. «Eine andere Möglichkeit, aufs Wasser zu gehen, gab es nicht.» Vor 30 Jahren gründete ihr Vater Arnoud, ein begeisterter Regattafahrer, das Windsurfing Silvaplana. Obwohl sie bereits als Kind ab und zu auf dem Surfbrett gestanden habe, gibt Sarah zu, ihre Passion erst mit 22 Jahren entdeckt zu haben. Vor 10 Jahren wagte sie den Schritt und übernahm das Surfcenter ihres Vaters – zusammen mit dem Surfschul-Maskottchen Kayla, ihrem Hund. Windsurfen sei nebst Kitesurfen und Stand Up Paddeln bis heute in. Eine Renaissance erlebe zurzeit das Wing Surfen. Mit Flügel ohne Leinen oder fixe Verbindung zum Brett übers Wasser zu gleiten, fühle sich an wie Fliegen, veranschaulicht Sarah den Reiz der In-Sportart.
Zehn Mitarbeiter, unerwarteter Regen, Warenbestellung, Surfunterricht, Vermietung, Onlineshop, Marketing: Der Arbeitsalltag im Surfcenter unterscheide sich von der Freizeit, erlaubt uns die gelernte Hotelfachfrau einen Blick hinter die Kulisse. Überlegt, in ihren ursprünglich gelernten Beruf zurückzukehren, habe sie sich nie. Sie möge das Leben am Wasser. Auch wenn es paradoxerweise auf Kosten ihrer Lieblingsbeschäftigung gehe: «Ich schaffe es nur zwei- bis dreimal pro Saison aufs Surfbrett», bedauert die 35-Jährige. «Heute ist einer dieser glücklichen Tage.» Der Erfolg des Unternehmens basiert auf dem Know-how der Mitarbeiter. Welche Ausrüstung eignet sich für welches Surf-Level? Wie unterrichte ich welchen Gast? Boards, Riggs, Masten, Bäume – die Materialkenntnisse und die Unterrichtsformen wollen gelernt sein. Als Windsurflehrerin in Magglingen und beim Unterricht an Sport-Uni Schülern hat sich Sarah ihr Wissen angeeignet. Gute Kundenberatung bezeichnet sie als A und O des Erfolgs.
Dem Malojawind verdankt der türkisfarbene See zwischen Piz Corvatsch und Julierpass seine Bekanntheit. Der beständige Luftstrom kommt um die Mittagszeit auf und bläst mit drei bis sechs Beaufort über den Silvaplanersee. Und das täglich. Der Malojawind ist ein verkehrter Wind oder Nachtwind des Tages. Normalerweise wehen die Winde in Bergtälern nämlich tagsüber nicht talab-, sondern talaufwärts. Wieso hält sich der Malojawind nicht an die Regeln? Grund dafür sind die steilen Berghänge im Bergell, die sich morgens schneller erwärmen als die Luft im Tal und so für ein Wärmetief über dem Malojapass sorgen. Die kühle Luft strömt in der Folge ungehindert über den Malojapass und die Engadiner Seen. Zu Freuden der Windsurfer, die von Mai bis Oktober mit bis zu 80 km/h übers Wasser jagen.
Drei Pancakes, garniert mit Erdbeeren, und zwei Cappuccinos später ist er da, der Hauptdarsteller. Er lässt das Wasser kräuseln und die bunten Segel übers Wasser tanzen. «Pünktlich», bemerkt Sarah zufrieden, während sie − den Schraubenschlüssel kräftig in beiden Händen – die Fussschlaufen an ihrem Surfbrett befestigt. Der Wind erfüllt das Surfcenter mit Leben. Ufer und Wasser beginnen zu brodeln: Jung und Alt ziehen Neoprenanzüge über (der See erreicht im Juli rund 14 Grad), Surfbretter reihen sich am Strand aneinander, Segel in allen Grössen liegen verstreut auf dem Rasen umher. Ein farbiger Ameisenhaufen aus Material, Sportler und Zuschauer – geschäftig und trotzdem gelassen. Das Surfbrett in der rechten Hand, das Segel in der linken Hand schlendert Sarah hinunter an den Strand. «Das ist mein Leben», sagt sie und nickt mit dem Kopf in Richtung Getümmel.