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Holz in den Adern

Nora Engels

Holz in den Adern

Nora Engels ist Künstlerin und Sportlerin. Diese zwei scheinbar gegensätzlichen Leidenschaften bringt sie im Oberengadin zusammen.

Sie rauscht auf dem Mountainbike in flottem Tempo über den Foppettas Trail ob Champfèr. Fliegt durch die Luft, als wären ihr auf der Abfahrt Flügel gewachsen. Sie spielt mit dem Gelände, legt sich fast horizontal in die Steilwandkurve, weiss sekundenschnell zu reagieren. Nora Engels’ Freude an der Bewegung ist förmlich spürbar. Die Wellen auf den Flowtrails der Corviglia reitet sie wie ein Profi-Surfer – mit einem gewissen Heimvorteil. Denn Nora stammt aus Bever und hat einst auf den Biketrails des Oberengadins Radfahren gelernt.

Zwei Stunden später steht Nora in ihrem Atelier in Samedan. Statt eines Mountainbike-Helms trägt sie nun einen solchen, wie man ihn von Waldarbeitern kennt. Über den Ohren trägt sie einen massiven Gehörschutz, auf der Nase sitzt eine Sicherheitsbrille und in den Händen hält sie statt eines Carbon-Lenkers eine knatternde Motorsäge. Nora ist Holzbildhauerin von Beruf und formt mit der Kettensäge die Grobstruktur einer neuen Skulptur aus einem Arvenstamm. Sie macht das mit drei verschiedenen Motorsägen, die sonst nur stämmige Waldarbeiter einsetzen. Die vergleichsweise zierliche Engadinerin führt die schweren Maschinen aber mit einer erstaunlichen Leichtigkeit. «Als Holzbildhauerin ist eine gute Fitness von Vorteil, denn der Umgang mit schweren Stämmen, aber auch mit Kettensägen, ist harte körperliche Arbeit», erklärt sie fast beiläufig. Und da wiederum komme ihr das Mountainbiken zugute.

Dass Nora ausgerechnet im Oberengadin ihr Handwerk ausübt, ist kein Zufall. Nachdem sie mehrere Jahre im Berner Oberland gelebt hat, ist sie gewissermassen der Liebe wegen in ihre Heimat zurückgekehrt. Der Liebe zur Arve. In der Bildhauerei gilt das Holz wegen seinen facettenreichen Strukturen und den vielen Ästen als eigenwillig. Die Arve hat für Nora aber auch neben der Kunst eine prägende Bedeutung: Als Kind ist sie in einem Haus mit viel Arvenholz aufgewachsen, später in ihrem ursprünglichen Beruf als Schreinerin war es das dominante Arbeitsmaterial, und selbst beim Mountainbiken ist der unverkennbare Baum stets Teil des Naturerlebnisses. So richtig in die Arve verliebt hat sich Nora aber, als sie sich im jugendlichen Alter aus dem heimischen Holz ein Alphorn gefertigt hat– mit dem sie bis heute immer wieder mal auftritt.

Nora Engels

Die eigene Komfortzone verlassen

Zurück im Atelier von Nora, wo sie nun die Motorsägen mit Meisseln ersetzt. Das Schnitzen beginnt. Hundert verschiedene Versionen scharfer Gerätschaften liegen in ihrem Werkzeugschrank. Mit ihnen schafft Nora die feinen Details, ein Markenzeichen ihrer Figuren. Ein Adler beispielsweise, bei dem die Federn, die Augen oder die Krallen geradezu real wirken. Ein Kind mit Gesichtszügen wie aus dem echten Leben. Oder eine Büste von beeindruckender anatomischer Genauigkeit. Viele Werke der jungen Künstlerin sind ein holzgeformtes Abbild der Natur, von der sich Nora auch inspirieren lässt. Meistens gar auf einem der vielen Biketrails. «Auf dem Mountainbike kann ich abschalten und loslassen.» Die Ideen entstehen dann oft aus dieser Unbekümmertheit. Und manchmal entdeckt sie auf dem Bike auch die Grundlage für ihre andere Spezialität: Skulpturen aus Schwemm-holz. «Das Kunstwerk an sich kreiert dabei die Natur. Das Holz, die Verformungen oder die Verwitterung sind bereits eigenständige Skulpturen.» Nora vollendet sie, verarbeitet die Details, bringt sie in neue Formen und haucht dem angeschwemmten Totholz neues Leben ein.

Nicht nur der Freude zur Natur und der Inspiration wegen schwingt sich Nora in den Sattel. Das Adrenalin spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. «Ich gehe gerne an meine Grenzen», sagt sie. Einen schwierigen Abschnitt zu fahren, einen Sprung zu schaffen, eine enge Kurve ohne Absteigen zu meistern und vor allem die eigene Komfortzone zu verlassen.

Das sei in der Bildhauerei aber ähnlich. «Die Arbeit mit der grossen Motorsäge ist für mich eine körperliche Herausforderung. Aber genau darin liegt auch der Reiz. Wenn du die eigenen Grenzen überwindest, dann ist das eine tiefe Befriedigung.» Und diese Befriedigung gebe es auf dem Trail genauso wie im Atelier.

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Leidenschaft lässt die Zeit vergessen

Mittlerweile hat sich die nächtliche Ruhe übers Oberengadin gelegt. Am glasklaren Himmel leuchten die Sterne und im Atelier von Nora die Arbeitslampen. Der unverkennbare Duft der Arve hängt im Raum wie ein angenehmes Parfüm. Die Skulptur gewinnt deutlich an Konturen. Ein Mensch wächst heran. «Es wird ein Kind», ergänzt Nora. «Das mache ich gerne. Kinder haben etwas Unbeschwertes, etwas Natürliches.» Genauso spielerisch wie bei den Kurven des Flowtrails geht sie mit den verschiedenen Meisseln ans Werk. «Die Anatomie habe ich einigermassen im Kopf», sagt sie, «der Rest ist Intuition.» Nora schnitzt sich dem Kind entgegen und ist längst tief in die Welt des Kunsthandwerks abgetaucht.

Und wenn sie dann in zwei Tagen vor der fertigen Skulptur sitzen wird und diese aus der Distanz betrachtet, wird da dieses Lächeln auf Noras Gesicht erscheinen. Das befriedigende Lächeln, das sie auch in Champfèr, am Ende des Foppettas Trails, hatte, als sie erschöpft, aber zufrieden von ihrem Bike stieg.

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