In Cinuos-chel, einem rund 80 Seelendörfchen, das zur Gemeinde S-chanf gehört und das letzte Dorf vor der Grenze zum Unterengadin markiert, steht das Hotel Veduta. 16 Zimmer zählt es. Ein Restaurant, einen Stammtisch. Auf der Treppe vor dem Eingang steht Gudench, von allen nur Gudi genannt, Campell. Er öffnet die Türe und bittet uns hinein in sein Hotel. Wir nehmen in einem kleinen Zimmer Platz – an den Wänden hängen verschiedene Geweihe. «Es ist der einzige Raum im Hotel, in dem Trophäen hängen.» Blickt man aus dem Fenster, sieht man Autos vorbeifahren und wenn der Zug die Bahnlinie passiert, weiss man, dass wieder eine Stunde um ist. Gudi erzählt von seinem Leben, von sich – die Hände hat er dabei stets ineinandergelegt, löst sie nur, um zwischendurch einen Schluck Wasser zu trinken. Wir lernen Gudi als sympathischen, aktiven und zielstrebigen Unternehmer kennen. Und wir wissen, er ist kein unbeschriebenes Blatt. Man kennt ihn als Gastgeber und Betreiber der Skischule in Zuoz. Privat ist er passionierter Jäger, verheiratet und Vater einer Tochter. Gemeinsam mit seiner Frau Sabrina führt er die Veduta in dritter Generation. Auf die Frage hin, wie ihn das Vatersein verändert hat erleben wir ihn das erste Mal für einen Moment sprachlos. Wo er ansonsten zu allem sofort eine Antwort hat muss er überlegen und antwortet dann erst ganz rational. Organisatorisch sei es keine grosse Umstellung, sie können die Kinderbetreuung gut mit dem Betrieb handhaben. Und dann wird er doch etwas persönlicher. «Ich kann mein Kind geniessen. Ich arbeite weniger und nehme mir die Zeit mit ihr bewusst raus.» Nach der Kochlehre in Celerina und der Hotelfachschule in Luzern hat Gudi den Betrieb 2014, mit damals jungen 28 Jahren, übernommen. Bewusst? «Ja, das habe ich ganz bewusst getan. Für mich war klar, dass das Engadin meine Heimat, mein Wohn- und Arbeitsort ist und bleibt. Es macht mir Freude, wenn etwas weitergeht. Dass ich den Familienbetrieb weiterführen kann, macht mich stolz.»
1951 haben die Grosseltern Campell den Betrieb in Cinuos-chel aufgebaut. Wenige Schritte neben dem Hotel ist er aufgewachsen, jetzt wächst seine Tochter Franca auf, wie er einst. Das bedeutet im engen Kontakt mit den Gästen, meist Stammgästen, die seit Jahren und über Generationen immer wieder ins Engadin kommen und in der Veduta wohnen. «Daraus sind persönliche Beziehungen, Freundschaften entstanden», sagt Campell. «Die Tatsache, in einem Hotel aufgewachsen zu sein, ging damit einher, dass immer etwas los war – ansonsten kann ich das ehrlicherweise nicht gerade behaupten, wenn ich von Cinuos-chel erzähle.» Heute weiss Gudi, dass es eben diese Ruhe ist, welche seine Gäste suchen und schätzen. Er selbst braucht sie auch – Momente, in denen er sich zurückziehen kann. Im Sommer sitzt er einmal die Woche schon um 5.00 Uhr morgens auf dem Sattel seines Bikes oder zieht die Wanderschuhe an. Gemeinsam mit einem Freund geht’s raus an die frische Luft. Die Val Susauna, bei Chapella, gehört dabei zu einem seiner Lieblingsorte.
In diesem Tal befindet sich denn auch ein wichtiger Ort für ihn – die Jagdhütte auf Alp Murter. Er zeigt uns den Ort, den er als seinen Kraftort beschreibt – wir verstehen wieso. Umgeben von nichts als Weite steht diese kleine Hütte auf einer Lichtung, davor ein kleiner See. Hier ist man allein, hat Zeit zu reflektieren, einfach zu sein oder im Falle von Gudi Campell sich ganz der Jagd hinzugeben. Dabei steht bei ihm die Erholung jeweils im Zentrum. «Dass ich auf der Jagd bin, muss ich nie begründen, da ist es einfach ok und keine Frage, wenn ich nicht dort bin, wo es mich vielleicht auch noch brauchen könnte.» Die meiste Zeit im September verbringt er hier, auf der Hütte. Hier schlüpft er dann, anders als im Restaurant, auch mal wieder in die Rolle als Koch. «Sonst stehe ich nicht mehr in der Küche, aber ich serviere viel – dabei kann ich mehr in Kontakt mit meinen Gästen treten als in der Küche. Der persönliche Service ist mir wichtig.» Er bereitet ein gutes Stück Fleisch zu. Hirsch. Selbst erlegt. Dazu Risotto. Schmeckt köstlich. Es ist ein etwas verhangener Herbsttag, es hat geschneit und die Bäume haben bereits die Farbe gewechselt.
Er setzt sich für einen Moment, geniesst die Ruhe und erzählt wie wichtig es ihm ist, seinen Gästen einheimisches und selbsterlegtes Wild zu servieren. Es geht darum, dass man die ganze Kette kennt, weiss woher das Fleisch stammt und den Gästen nebst dem Fleisch auch noch einen Teil der Engadiner Kultur vermitteln kann, wovon traditionelle Küche und die Jagd teil sind. Apropos Küche – die Veduta ist nebst dem heimischen Wild auch für die hausgemachten Capuns bekannt. Aber zurück zur Jagd. Wer einer Jägergeschichte lauscht, könnte darin Züge eines Märchens erkennen. Nicht, weil das, was erzählt wird vielleicht nicht immer ganz der Realität entspricht, aber vor allem der Art wegen, wie die Jäger von ihren Erlebnissen erzählen. Ein Ort, an dem Jagd kein Thema ist, das Wild aber im Fokus steht, ist der Nationalpark, welcher an die Gemeinde S-chanf grenzt. Vor allem im Herbst ist der Besuch ein absolutes Muss. Die Hirsche sind von Mitte September bis etwa Anfang Oktober in der Hirschbrunft. Hunderte Hirsche buhlen um die Gunst der Kühe. «Das ist ein wahres Spektakel», sagt Gudi. Und wahrlich, es ist etwas, wovon man nach einem Mal sehen nicht genug bekommt. Man muss wiederkommen. Damit entlässt er uns, schickt uns auf den Weg, seine Heimat, das Engadin selbst zu erkunden.