Vaters grosse Hände ruhten wärmend auf meinen Schultern und liessen mich die kalten Zehen in den schweren Skischuhen einen Augenblick lang vergessen. Ich legte die Stirn ans Fenster, ganz nah, bis das Glas sich beschlug und ich darin kleine Sterne und Punkte zeichnete. Es kam mir vor, als wäre die Gondel ein Zauber-Schiff. Ein schaukelndes Schiff, das bei der Bergstation einfach weiter gondeln würde, vorbei an den Furtschellas-Felsen. Weiter und weiter und weiter. Das weisse Meer unter uns, der blaue Himmel über uns. Wir federleicht dazwischen.
Samstag, 19.2.2022 ab 12:00 Uhr
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Die Berge, sie waren in früheren Zeiten felsige Ungeheuer, denen man aus dem Weg gehen wollte. Sie schwebend zu überwinden, war unvorstellbar – nicht nur technisch. Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert änderte sich jedoch allmählich diese Wahrnehmung, der Schrecken wich der Schönheit und die Alpen wurden zum Sehnsuchtsort. Für Alpinisten mit sportlichem Ehrgeiz und Abenteuerlust genauso wie für Reisende, die sich am Fusse des Gebirges dessen mächtigem Antlitz hingaben. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Schweizer Alpen so zum meistbesuchten Reiseort Europas.
Mit den Reisenden kam der Wunsch nach mehr Mobilität und genügend Geld ins Land. So wurden Berge erschlossen, abgelegene Täler erreichbar gemacht. Und spätestens mit der Eröffnung der Gotthardbahn 1882 war der Schweizer Pioniergeist weltbekannt. Denn die Alpentransversale verband nicht nur den Kanton Uri mit dem Tessin, sondern gewissermassen auch Nordeuropa mit Indien, schreibt der Historiker Joseph Jung in seinem Buch «Das Laboratorium des Fortschritts. Die Schweiz im 19. Jahrhundert».
Der Bau der Gotthardbahn war, so könnte rückblickend gesagt werden, auch die Geburtsstunde der RhB. Denn mit ihrer Eröffnung brach der Transit durch den Kanton Graubünden über Nacht zusammen und liess den Bergkanton in einer wirtschaftlichen Depression zurück. Aus diesem Stillstand, war sich der niederländische Gast Willem Jan Holsboer sicher, konnte nur der Bau einer Bahn helfen. Dank seiner Initiative wurde 1889 die erste Strecke der neuen Schmalspurbahn in Betrieb genommen. Die führte von Landquart nach Davos.
In den folgenden Jahren wurde das Streckennetz laufend erweitert, der «Kanton der 150 Täler» mit Schienen erschlossen. Zwölf Stunden dauerte die erste Fahrt im Jahr 1904 von Landquart nach St. Moritz – das war nicht unbedingt schneller als mit den Pferden, aber wesentlich bequemer.
Die Geräusche, sie sind dieselben geblieben, seit nun fast fünf Jahrzehnten. Das Klacksen beim Schliessen der Türe. Das Geräusch, wenn sich die Seilbahn in Bewegung setzt. Das Geräusch, wenn die Rollen über die Masten gleiten.
Gleichzeitig mit der Weiterentwicklung der Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten die Techniker nach verschiedenen Systemen, die es ermöglichten, grosse Steigungen auf möglichst direktem Weg zu überwinden. Immer weiter, immer höher, klang der Kanon dieser Zeit. So wurden in diesen Jahrzehnten etwa die Techniken der Zahnradbahnen und der Standseilbahnen erfunden und in Betrieb genommen.
Beflügelt durch diese Erfolge hob 1866 schliesslich zum ersten Mal eine Bahn ab. Die erste Seilschwebebahn der Welt nahm ihren Betrieb am Rheinfall auf – als Transportbahn, die die Turbinenwärter zu ihrem Arbeitsplatz über dem Rhein brachte. 1955 schwebte die erste Seilbahn übers Oberengadin: Die Luftseilbahn von Corviglia auf den Piz Nair wurde eröffnet und erstmals knackte eine Bahn für den öffentlichen Verkehr die 3000-MeterGrenze.
Heute lassen sich schweizweit mehr als 1700 Seilbahnen finden. Und zählt man die teils abenteuerlichen Kleinbahnen dazu, dann kommt man auf über 3000. Viele dieser Seilbahnen werden touristisch genutzt. Viele sind aber auch Lebensadern für steile, abgelegene Gegenden, die über das Seil erschlossen sind. So bunt ihre Verwendung, so abenteuerlich vielseitig ihre Technik, so spannend ihre kulturhistorische Bedeutung. Viele von ihnen sind deshalb im weltweit ersten Seilbahninventar für schützenswerte Seilbahnen aufgeführt.
Darin aufgeführt oder nicht: Sie alle erzählen leise von unzähligen Pioniertaten, die einst notwendig waren, um die Höhe der Berge zu erschliessen. Beispielsweise die FurtschellasBahn, deren Betriebsgründung 1971 gefeiert wird. Im selben Jahr, in dem John Lennon mit «Imagine» in den Schweizer Hitparaden erklingt. Genauso wie Roy Black und Anita, die «Das Leben ist schön» singen. Politisch setzt sich in der Schweiz das Frauenstimmrecht auf Bundesebene durch und in Grossbritannien adelt die Queen Elisabeth II Agatha Christie als «Dame Commander of the British Empire».
Die beiden Gondeln der Furtschellas-Bahn verbanden fortan nicht nur das Tal mit dem Berg und den Berg mit dem Tal, sondern machten Sils darüber hinaus zur Destination für Wintersportler.